Nach 21 Jahren, 18 Paraden, weltweitem Aufsehen und weit über 12 Millionen Besuchern endet ein Massen-Event namens „Loveparade“, das als Demonstration mit 150 Teilnehmen in Berlin begann, mit 1,6 Millionen Ravern nach dem Umzug ins Ruhrgebiet in Dortmund Rekorde brach und nun 21 Todesopfer in Duisburg forderte. 2live4music will zurück zum Ursprung gehen und aufzeigen, wie sich die Loveparade historisch entwickelt hat und wie sie zu dem Publikumsmagnet wurde, den die Veranstalter und die Stadt Duisburg in jüngster Geschichte fatal unterschätzt haben.
Als die Idee zur Loveparade geboren wurde, hätte man sich eine Zahl, die wohl weit über 12.364.150 betragen mag, nicht vorstellen können: Doch dies ist die geschätzte Teilnehmerzahl aller 18 Paraden, die vor 21 Jahren ihren Anfang in Berlin durch die Initiative von Dr. Motte (bürgerlicher Name Matthias Roeingh) fanden. Dr. Motte wollte ein Event schaffen, das durch das Band der Musik Menschen allen Ursprungs und aller Kulturen miteinander friedlich verbindet und geschaffene Grenzen zwischen Menschen durch Unterschiedene jeglicher Art einreißen kann. Die Liebe zur Musik ist nicht gebunden an Religion, Hautfarbe, politische oder sexuelle Orientierung, wodurch die Loveparade einer Generation ein Zusammengehörigkeitsgefühl geben sollte. Dr. Motte veranstaltete am 01.Juli 1989 unter dem Motto „Friede, Freude, Eierkuchen“ („Friede“ = Abrüstung, „Freude“ = bessere Völkerverständigung durch Musik, „Eierkuchen“ = gerechte Verteilung von Nahrungsmitteln) eine Friedensdemonstration, die für Außenstehende eher ein alternativer kleiner Umzug war, an dem 150 Raver teilnahmen, die damals die überschaubare Techno-Szene wiederspiegelte. Aus zwei Wagen wummerten die Techno-Beats, die sich langsam ihren Weg über den Kurfürstendamm in Berlin bahnten. Berlin war durch die Ost/West-Teilung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik ein besonderer Ort für diese Parade, denn kaum an einem anderen Ort war die Grenze zwischen Völkern und Menschen deutlicher zu begreifen, als in einer Stadt die geteilt war durch eine meterhohe und kilometerlange Mauer, die das Leben bestimmte. Berlin war Spiegel des kalten Krieges und sollte im selben Jahr ein Ereignis erleben, dass zu den bedeutendsten Freiheitsbewegungen der Menschengeschichte zählte: Der Berliner Mauerfall.
Doch egal wie unbedeutend die erste Loveparade doch schien, ihre Teilnehmer gelten noch heute als richtungsweisend für die Entwicklung der elektronischen Musikszene und die zweite Parade, die im nächsten Jahr folgen sollte, stellte einen ewigen Rekord in der Geschichte der Loveparade auf. „The Future Is Ours“ war das Thema am 07.Juli 1990 und zeigte schon damals den Weg an, in den diese Demonstration für Liebe und Frieden gehen sollte. Der Rekord bestand in dem größten prozentualen Teilnehmerzuwachs, den die Parade bis 2010 je erlebt hat. Es nahmen 2.000 Menschen an der Loveparade teil, die zu der House- und Techno-Musik der sechs Wagen tanzten. Doch auch mit der Teilnehmerzahl der im Jahr 1991 folgenden Loveparade, war die Demonstration immer noch sehr klein und unbedeutend: Doch die 6.000 Teilnehmer der Loveparade „My House Is Your House and Your House Is Mine“ sahen zum ersten Mal auch Wagen aus Frankfurt und Köln zu, was auf die Präsenz in den Medien zurückzuführen ist, die nun die Parade begleitete und Werbung machte.
Am 4. Juli 1992 tanzten trotz Wolkenbruch 15.000 Menschen unter dem Mottp „The Worldwide Party People Weekend“ auf der vierten Loveparade von Dr. Motte. In der Zwischenzeit hatten in Deutschland Zahlreiche Techno-Clubs aufgemacht und die May-Day-Raves sind ins Leben gerufen worden. Die elektronische Musik-Szene fand weiter Zuwachs und besondere Aufmerksamkeit bekam die Loveparade aufgrund ihrer schrillen und ausgefallenen Mode. Die Techno-Jünger zeigten Jahr für Jahr neue gewagte Kleider, die von Neonfarben zu extremen Schlaghosen reichten und zumeist unter dem Gedanken „Weniger ist Mehr“ standen. Das Auftreten der Loveparade wurde immer individueller, skurriler und kreativer. Zum „Fifth Anniversary“ der Loveparade nahmen 1993 auch internationale Wagen aus London teil und insgesamt 31.000 Techno-Liebhaber. Während 1994 („The Spirit Makes You Move“) schon 110.000 Raver auf der Friedensdemonstration tanzten, sind es 1995 eine halbe Millionen Menschen, die zum Motto „Peace On Earth“ für mehr Frieden auf der Welt und vor allem in Bosnien und Herzekowina demonstrieren. Der Bosnienkrieg forderte in den Jahren von 1992 bis 1995 mehr als 100.000 Todesopfer.
Die Loveparade wird immer bedeutsamer und nach dem riesen Zuwachs der Teilnehmer muss die Parade nun vom Kurfürstendamm zur Straße des 17. Juni verlegt werden, wo 1996 750.000 Raver um die Siegessäule herumtanzen und die Abschlusskundgebung („We Are One Family“) von Dr. Motte verfolgen: "Die Situation der heutigen, globalen Familie, stellt sich durch Uneinigkeit, Konkurrenz, Gleichgültigkeit, Resignation, dem Beharren auf Nationalität und der Unterdrückung des Andersartigen dar. Wir kämpfen nicht gegen etwas, wir leben unser Ideal und wissen, daß wir eine Familie sind, daß Menschen, die Gefühle haben, auf diesem Planeten leben, Liebe geben, träumen und Träume verwirklichen." Die Atmosphäre der Parade wird eine ganz andere, denn der Umzug der Wagen folgt nun durch den Tiergarten und durch das Herz von Berlin. Eine laute und farbenfrohe Techno-Parade, die durch die ruhige Natur Berlins zieht und auf den Straßen Berlins, die so viel Geschichte erlebt haben, für die Botschaft ihrer Teilnehmer demonstriert. 1997 wurde die magische Grenze von 1 Millionen Menschen geknackt. Unter dem damaligen Thema „Let The Sunshine In Your Heart“ beweist sich erneut, dass es selten eine Bewegung geschafft hat politischen Inhalt mit Unterhaltung und Lebensfreude zu verknüpfen. Unter den Kritikern bleibt die Loveparade nur eine Spaßveranstaltung, die dem Karneval ähnelt, aber im Grunde, ist sie eine neue Form der Demonstration, die ohne Spruchbänder und Parolen auskommt und trotzdem eine Botschaft in die Welt hinaus schickt. Und diese Botschaft kommt an, denn die Loveparade und Berlin genießen mittlerweile weltweites Aufsehen.
Mit dem DJ Westbam liefert Dr. Motto nun jedes Jahr einen offiziellen Titelsong zur Loveparade ab. Westbam ist Veranstalter einiger May-Day-Events und förderte in den 90er Jahren so Musikgrößen wie Marusha und DJ Hooligan. Erstmals wird die Rede von Dr. Motto unter dem Motto „One World – One Future“ von fünf deutschen Fernsehstationen live übertragen und ebenfalls erstmalig stagniert die Teilnehmerzahl bei einer Millionen Teilnehmern. Am 10. Juli 1999 findet nach 10 Jahren die Loveparade „Music Is The Key“ statt und bricht bei strahlendem Sonnenschein den Zuschauerrekord mit 1,5 Millionen Menschen. Doch die Friedensdemonstration wird immer teurer, denn mit 200 Tonnen Müll und über 1.800 Polizisten im Einsatz sind nur zwei Fakten genannt, die den wahnsinnigen Aufwand hinter einer solchen Massenveranstaltung wiederspiegeln. Die Welt-Zeitung titelt „Die Loveparade der Rekorde“, aber die Friedensdemonstration verliert ihren friedlichen Charme indem bei einer Messerstecherei ein Raver in den Massen ums Leben kommt. Die Kritik und die Sorgen um den Kostenfaktor für die Stadt Berlin bleiben in den nächsten Jahren akut. Die Loveparade wird währenddessen zum Exportschlager, der in Österreich, England, Israel und Mexiko Nachahmer findet, die Events im Stile der Loveparade auf die Beine stellen. Eine Millionen Menschen tanzen auch 2000 („One World – One Loveparade“) und 2001 („Join The Love Republic“) in Berlin auf der Loveparade, an der weit über 250 DJs und über 45 Trucks teilnehmen. Doch 2001 verliert der Friedensumzug seinen Demonstrationsstatus und ist zum ersten Mal eine kommerzielle Veranstaltung. Die Probleme werden immer größer, denn die Teilnehmerzahl schrumpft aufgrund von Terrorwarnungen und Unwetterprognosen im Jahr 2002 („Access Peace“) auf 700.000 Teilnehmer. Die Loveparade 2003 kann trotz heftiger Gerüchte um die Finanzierungsprobleme stattfinden und sie bleibt Dank der Abschlusskundgebung von Dr. Motte bei vielen Ravern in ganz besonderer Erinnerung: „Unser Motto heißt dieses Jahr: Love Rules. Wir konnten mit den weltweiten Friedensdemonstrationen, den Irak-Krieg nicht verhindern, wir können den weltweiten Terror nicht verhindern. Warum also: Love Rules? Love Rules, weil jeder Liebe und Respekt will, weil jeder Mensch glücklich sein will, weil wir weltweit eine große Familie sind und weil jeder Einzelne dafür Verantwortung trägt. Mit Kriegen löst man keine Probleme. Mit Terror überzeugt man niemanden. Mit Egoismus und Vorurteilen schafft man keine lebenswerte Welt. Die Alternative kann nur heißen: Liebe und Respekt. Verständigung und Geduld. Love Rules!“.
Das Aus der Loveparade folgt 2004 und ebenfalls 2005 können die Kosten der Friedensparade nicht gegenfinanziert werden. Die Sorgen begannen bereits 2001, in dem Jahr als die Loveparade ihren Status als Demonstration verlor und seitdem Sponsoren und der Veranstalter für die Kosten aufkommen mussten. Es wurde berichtet, dass 7.500 Raver sich trotzdem an der Siegessäule trafen und für den Erhalt der Loveparade demonstrierten. Dr. Motte eröffnete am Breitscheidplatz eine Mini-Loveparade, eine Art Alternative zur Loveparade, die mit ca. 30.000 Personen, 5 Trucks und dem Motto "Fight the Power" stattfand. Doch am 15. Juli 2006 findet die Loveparade wieder (aber, zum letzten Mal) in Berlin statt – unter dem Motto „The Love Is Back“. Die Begeisterung war immer noch zu spüren und mit 1,2 Millionen Menschen kamen wieder weit mehr Besucher als in den letzten Jahren der Veranstaltung. Die Musik hatte sich weiterentwickelt, was auf der Loveparade klar zu hören war: Man sprach nicht nur noch von Techno, sondern eben auch von House, Drum´n´Bass und ElektroPop. Doch mit den Problemen der letzten Jahren zeichnete sich diese Entwicklung schon ab, dass die Loveparade in Berlin nicht mehr stattfinden wird. Aus diesem Grund fand im Februar 2007 durch die Loveparade Berlin GmbH eine europaweite Ausschreibung statt, in der man sich als Austragungsort für die Parade bewerben konnte. Unter 60 Bewerbern gewinnt die Ruhr-Metropole, die einen Plan vorlegt, in dem die Loveparade in den Jahren 2007 bis 2011 in fünf verschiedenen Großstädten des Ruhrgebiets stattfinden soll: Essen (2007), Dortmund (2008), Bochum (2009), Duisburg (2010) und Gelsenkirchen (2011).
Die Parade in Essen wird zu einem großen Erfolg: Ebenfalls im Ruhrgebiet findet die Loveparade Anklang und lockt 1,2 Millionen Tanzwütige unter dem Motto „Love Is Everywhere“ in die Essener Innenstadt. Auf den 27 Wagen aus sieben Ländern legen weiterhin die internationalen Musik-Größen in der elektronischen Musik-Szene auf. Erstmalig ist die Loveparade nicht nur eine Parade, sondern mehr ein Event, das aus über 1.000 Stunden Musik besteht. An vier Tagen – dem sogenannten „Love Weekend“ finden in den Clubs und Veranstaltungshallen der Region über 120 Parties mit mehr als 700 internationalen Künstlern statt. Das Event wird in fünf Kontinenten ausgestrahlt und wird seinem Motto, dass Liebe überall ist, wortwörtlich gerecht.
Welche Ausmaße die Loveparade noch annehmen kann, zeigt sich im Jahr 2008 in Dortmund, indem der 9 Jahre bestehende Besucherrekord gebrochen wird. 1,6 Millionen Menschen tanzten auf der Parade unter dem Thema „Highway To Love“, auf dessen Abschlusskundgebung unter anderem Moby, Underworld, Paul van Dyk und DJ Hell für die Beats und den Höhepunkt des Love Weekends sorgten. Besonderheit war, dass die Abschlusskundgebung länger war als zuvor und der Lichtarchitekt Gert Hof das große Finale einläutete. Bei der Licht Show „Colosseum of Light“ erleuchtete Scheinwerfer den Himmel über Dortmund in bis zu 50 Kilometer Entfernung. Alles schien ein voller Erfolg zu werden und der Umzug in die Ruhr Metropole der einzig wahre Weg, den die Loveparade gehen konnte. Doch 2009 sagt die Stadt Bochum plötzlich die Loveparade ab, da die Kapazität der vorhandenen Infrastruktur in der Stadt für das Massenphänomen und den erwarteten Besucherzahlen nicht ausreicht. Aufgrund der kurzfristigen Absage durch die Stadt und der damit verbundenen Planungsunsicherheit wurde kein alternativer Austragungsort gesucht, der die Parade 2009 noch retten konnte. Ausgerechnet am 20.Jubiläum der Loveparade musste die größte internationale Freilicht-Party abgesagt werden.
Mehr als 20 Jahre später sterben 21 Menschen auf der wohl bisher letzten Loveparade in Duisburg. Anders als Bochum hat die Stadt Duisburg die Mamutaufgabe, ein Event so groß wie die Loveparade auszutragen und zu planen, versucht zu bewältigen. Eine Aufgabe die wohl zu groß für die Stadt und für die Veranstalter war. Aus der anfänglichen Idee von Dr. Motto ist ein Massen-Event geworden, bei dem es zuletzt mehr um Finanzierungen, Rekordjagd und Imagepflege ging als um ein friedliches Miteinander unter dem Band dem Musik. Aus den inhaltlichen Botschaften und der Friedensdemonstration ist mehr eine riesige kommerzielle Party geworden. Aus 150 Besuchern im Jahr 1989 wurden 1,6 Millionen im Jahr 2008. In nur wenigen Jahren hat sich die Loveparade zu einer Monsterveranstaltung entwickelt, die irgendwann nur noch ein „Mehr“ auf Kosten der Besucher kannte. Die Frage nach der Schuld wird weiterhin geklärt werden müssen, doch wird es die Opfer nicht wieder lebendig machen, die auf der Loveparade in einer Massenpanik ums Leben gekommen sind. Die Geschichte der Loveparade ist auch eine Geschichte von Profit, Kampf um Ruhm und tödlicher Unvernunft. Die Polizeigewerkschaft Nordrhein-Westfalen spricht von "materiellen Interessen eines Veranstalters, der unter dem Deckmäntelchen der
'Kulturhauptstadt 2010'" Druck ausgeübt habe. Dr. Motte wirft den Veranstaltern vor, die Katastrophe durch inkompetente Planung verschuldet zu haben: "Das Gelände abzusperren war ein Fehler. Die Loveparade war immer offen für alle in Berlin, mit Rückzugsmöglichkeiten in den Tiergarten". In Duisburg war also nicht nur der Profit, sondern auch die Katastrophe vorprogrammiert. Die Bilder aus dem Tunnel in Duisburg, der der einzige Zugang war für mehr als eine Million von Menschen, die auf das Gelände des alten Güterbahnhofs gelangen wollten zur Loveparade, werden uns so schnell nicht aus dem Gedächtnis verschwinden. Gerade in den letzten Tagen tauchen immer neue
schockierende Handyvideos auf, die Augenzeugenberichte direkt aus der Massenpanik im Tunnel darstellen. 2live4music schickt das aufrichtige Beileid an die Angehörigen der Opfer. -SR-
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